Die Arbeitergeberseite fuhr schwere Geschütze auf: Aussperrungen, sogenannte Schwarze Listen oder Gründung von Gegenorganisationen behinderten die Gewerkschaftsbewegung, konnten sie jedoch letztlich nicht verhindern: Der Mitgliederzulauf war hier wesentlich höher als bei den politischen Parteien. Und parteipolitische Unabhängigkeit war ein wesentliches Ziel der Gewerkschaften. Kirche und Bürgertum übten Druck auf den Staat aus, für Milderung zu sorgen. Evangelische und katholische Arbeitervereine begannen ihre Arbeit. Die katastrophale Lebenslage der arbeitenden Bevölkerung war offenkundig.
Um die Familien zu ernähren, mußten die Kinder bei der Beschaffung der nötigen Finanzen mithelfen: Etwa ein Achtel aller Schüler in Deutschland arbeitete in der Industrie. Um die Jahrhundertwende fuhren noch etwa 4000 Kinder in die Stollen der Bergwerke ein. Die elementarsten Lebensprobleme bestimmten die Existenz der Menschen. Der mit eigener Hände Arbeit mühsam erwirtschaftete Ertrag war, wie man sagt, zu gering zum Leben und zuviel zum Sterben. Die Sorgen um den Unterhalt der Seinen gruben dem Familienvater die Sorgenfalten täglich neu ins Gesicht.
Die rechtliche und soziale Absicherung der Arbeiter steckte noch nicht einmal in den Kinderschuhen. Die „gute, alte Zeit“ war halb so gemütlich, wie wir es uns heute ausmalen. Hinzu kam, daß der in Deutschland gerade einsetzende Wandel vom bäuerlich geprägten Land zum Industriestaat die Landflucht begünstigte - mit dem Ergebnis, daß die Dörfer ausbluteten und die Ballungsräume überquollen. Mit den Erwerbsmöglichkeiten in den Städten sank zwar die Zahl der Arbeitslosen, aber nun kletterten die Lebenshaltungskosten. In der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts begann ein Hunsrücker seine bedeutende Tätigkeit für einen ganzen Berufsstand und gründete die Straßenwärter-Gewerkschaft, heute eine der mitgliederstärksten in Deutschland.
Ein Chausseearbeiter brachte im Durchschnitt 1,60 Reichsmark am Tag nach Hause, dafür schuftete er zwölf Stunden lang. Das reichte gerade aus, eine mittlere Familie ohne Magenknurren durchs Leben zu bringen, für Kleidung ohne Flicken und Wohnung ohne Flecken fehlte aber das Geld. Jakob Peter Leonhard erblickte am 27. März 1866 das Licht der Welt - im gleichen Jahr focht Preußen mit Österreich den „Deutschen Krieg“ aus, wurde der Dichter Hermann Löns geboren und schrieb der russische Schriftsteller Dostojewski seinen Roman „Schuld und Sühne“. Jakobs Vater war ein armer Landwirt und Tagelöhner im Hunsrückdorf Ellern. Im Familienstammbuch ist er als „Hülfsarbeiter“ aufgeführt. Kaum vorstellbar enge Wohnverhältnisse hatten wohl auch Einfluß darauf, daß der kleine Jakob einziges Kind der Leonhards blieb. Die Familie führte ein unscheinbares Dasein.
Als der Bub 1880 die Volksschule verließ, war es mit Arbeitsmöglichkeiten auf dem platten Land nicht weit her. Jakob fand Arbeit in Mainz-Weisenau und blieb die Woche über dort. Die wenigen Stunden am heimischen Herd von Samstagmorgen bis Sonntagnachmittag waren sicherlich zum Teil gefüllt mit Tätigkeiten in der elterlichen Landwirtschaft; Freizeit blieb kaum. Allenfalls dem heimischen Männergesangverein trat der junge Mann bei - ein Chor, den er viele Jahre später einmal dirigieren sollte.
Auch der Kriegerverein seines Dorfes hat ihn unzweifelhaft geprägt. Unmittelbar nach dem Krieg von 1870/71 gegen den „Erbfeind“ Frankreich gründeten sich überall im Hunsrück diese Veteranenvereine. Nur wer aktiv gedient hatte, konnte Mitglied werden. Das Hochhalten der vaterländischen Gesinnung und des nationalen Deutschtums gehörte zu den obersten Maximen dieser Vereinigungen. Jakob Leonhard war von 1888 bis 1890 beim Militär, und zwar bei dem Infanterie-Regiment 5tes Badisches Nr. 113 in Freiburg, von dem er als Gefreiter entlassen wurde. 1894 schlug der mittlerweile 28jährige den Berufsweg des „Chaussee-Arbeiters“ ein.
Das Bewußtsein um die sozialen Probleme der Arbeiter beschäftigte ihn bereits vorher. Ein nebensächlicher Zufall wollte es, daß die politische Arbeiterbewegung in den USA mit der „National Labour Union“ 1866 begann - Leonhards Geburtsjahr. Der junge Straßenarbeiter war erst ein Jahr „auf der Chaussee“, als er 1895 einen Zusammenschluß anstrebte. Aber es gab eigentlich noch gar keinen Straßenwärterberuf. Die Chaussee-Arbeiter waren bei behördlichen oder privaten Auftraggebern zeitweise beschäftigt und konnten ihren Lebensunterhalt davon nicht bestreiten.
Nach am 1. April 1894 die preußische Rheinprovinz Straßenwärterstrecken von bis zu zehn Kilometern Länge bildete, die gewartet werden mußten, blieb den „Wärtern“ immer weniger Zeit für Haus, Hof und Feld. Die Dienstzeit lag fest, die Arbeitskraft wurde voll beansprucht, aber der Lohn blieb bescheiden.
Ein Teufelskreis: Ohne zusätzliche Landwirtschaft war die Familie nicht zu ernähren, ohne Arbeit auf der Straße aber auch nicht. Jeweils für das andere fehlte die Zeit, weil das eine sie so sehr mit Beschlag belegte. Leonhard besprach mit Kollegen die Problematik. Schon da war sein starker Glaube an das Mögliche, sein gesunder Idealismus und seine Bereitschaft, selbst den Opfergänger zu spielen, ausgeprägt. Zudem konnte er wie kaum ein zweiter durch seine rhetorischen Fähigkeiten immer wieder ein Solidaritätsgefühl vermitteln. Die Bemühungen des jungen und agilen Hunsrückers hatten Erfolg.
Nach schier pausenlosem Werben und Antreiben kam es am 18. Juni 1895 anläßlich eines Treffens in seiner Ellerner Wohnung zur Gründung des „Rheinischen Straßenwärter-Verbandes“ mit dem Ziel, die wirtschaftliche Notlage der Arbeiter zu beheben. Zudem sollte schon damals der Lehrberuf „Straßenwärter“ geschaffen werden, was letztlich jedoch erst ein Dreiviertel-Jahrhundert später gelang. Jakob Leonhard war zweifelsohne der geistige Urheber der zunächst satzungslosen Vereinigung, und die trug in der Folge viel zur besseren Lebensqualität der Arbeiter und ihrer Familien bei. Zunächst kam der Verband nur schwer auf Touren, aber Leonhards dauernde Bemühungen um die Mitarbeit von Kollegen auch in anderen Reichsteilen zeigte erste Erfolge, als der „Rheinische“ Verband zur Jahrhundertwende mit dem „Pfälzischen“ einen ersten Bruder bekam.
Weitere fünf Jahre danach stand das Gros der Straßenwärter beim Landesbauamt Bad Kreuznach hinter der jungen Organisation, dementsprechend konnte jetzt eine Satzung verabschiedet werden. Verbandssitz war Ellern, Leonhard offizieller Vorstand. Der Mitgliedsbeitrag betrug 45 Pfennige im Monat. Damit konnte den Mitgliedern im Falle einer Erkrankung eine tägliche Unterstützung in Höhe von 50 Pfennigen und im Todesfall den Hinterbliebenen ein Sterbegeld von 20 Mark gezahlt werden.
Der Verband schien nun festgefügt, Leonhard richtete seinen Blick weiter aus: Eine Verbandszeitung sollte her, um neue Mitglieder zu werben, aber auch, um die räumliche Entfernung zwischen den vielfach als Einzelkämpfern tätigen Straßenwärtern zu überbrücken. Am 8. Januar 1906 erschien die Erstlingsausgabe von „Der Rheinische Straßenwärter“. Fortan kam das von Leonhard initiierte und redigierte Blatt alle zwei Wochen in die Häuser der Abonnenten. Der erste finanziell sichtbare Erfolg der Organisation war die Gründung einer eigenen Krankenkasse, und nach der staatlichen Genehmigung nahm die „Kranken- und Sterbekasse des Rheinischen Straßenwärterverbandes“ am 1. Juli 1907 ihre Arbeit auf.
Dies war lange vor Inkrafttreten der „Reichsversicherungsordnung“. Genau zwei Jahre später markierte Jakob Leonhard mit einer weiteren Errungenschaft die Verbandsgeschichte. Der Wunsch nach einheitlicher Arbeitskleidung war nur durch eine „Kleiderkasse“ zu realisieren. Von diesem 1. Juli 1909 an entrichteten die Bediensteten einen monatlichen Obolus in die „Kleiderkasse der Rheinischen Provinzial-Straßenbauverwaltung“, einer nach genossenschaftlichen Prinzipien arbeitenden Einrichtung. Von November 1909 bis Juni 1910 erhielt jeder an der Kasse Beteiligter eine Ledertuchhose, eine Litevka, einen Umhang mit Kapuze, eine Mütze und eine blaue Drillichjacke. Nach dem Ersten Weltkrieg faßte der Verband schnell wieder Fuß. Jetzt packte Leonhard ein Problem an, dessen Lösung zum bisherigen Höhepunkt seiner Verbandsarbeit werden sollte:
Er begann sich mit der Provinzialverwaltung hinsichtlich eines Tarifvertrages zu verständigen, um die Arbeiter und ihre Familien langfristig abzusichern. Am 18. Juni 1930 war es vollbracht - die Straßenwärter wurden ins Angestelltenverhältnis übernommen, sie konnten sich auf ein Ruhegehalt freuen. Was fehlte, war der reichsweite Zusammenschluß aller regionalen Verbände. Dem ersten Schritt Anfang 1926, als die Straßenwärter Westfalens und des Rheinlandes zusammengingen, sollten weitere folgen. Aber die politische Lage im Deutschland des Dritten Reiches stoppte eine umfassende Konzentration.
Seit 1926 firmierte die Organisation unter der Bezeichung „Verband Deutscher Straßenwärter“. 1933 wurden alle Gewerkschaften zwangsaufgelöst und durch die „Deutsche Arbeitsfront“ ersetzt. Leonhard erhielt eine Vorladung zur Kreisleitung der „DAF“ und mußte das beschlagnahmte Vermögen des Verbandes in Höhe von 28.000 Reichsmark mitbringen. Leonhard selbst hatte mit dem Nationalsozialismus wenig im Sinn, bei der späteren Entnazifizierung wurde er als „Mitläufer“ eingestuft. Der Zweite Weltkrieg zerstörte viel, keinesfalls jedoch das Interesse und die Ideale Leonhards und seiner Kollegen, ihre Gewerkschaft wieder zum Leben zu erwecken. Der greise Herr stand mittlerweile im 80. Lebensjahr, dennoch unternahm er für die Wiedergründung Werbefahrten, inszenierte Versammlungen und war überall in den Regionen Trier und Koblenz zugange.
Am 30. Oktober 1949 konnte er die erneute Gründung des „Rheinischen Verbandes“ in Koblenz noch miterleben. Sogar die Geschicke dieses seines Heimatverbandes leitete er nochmal kurzzeitig, legte dann jedoch die Führung in die Hände der nachdrängenden Generation. Ein langwieriges Blasenleiden fesselte ihn schließlich über Monate ans Krankenbett. Am 30. November 1952 verstarb diese agile und weithin geschätzte Persönlichkeit im 86. Lebensjahr.
Der Tod ereilte ihn auf den Tag genau drei Jahre und einen Monat nach Wiedergründung „seines“ Rheinischen Verbandes. Sein unbeugsames Standesbewußtsein und sein stets realistisches Einschätzen von Forderungen und Machbarem trugen ihm in allen Kreisen eine hohe Wertschätzung ein. Er ist zweifelsohne der Bahnbrecher auf sozialem Gebiet für einen ganzen Berufsstand. Der Name Jakob Leonhard wird in der Geschichte des „Verbandes Deutscher Straßenwärter“ und des Straßenwärterberufes überhaupt immer an vorderster Stelle genannt werden.
Dieter Diether
Quellen: Auszüge aus dem Aufsatz des Autors im Festbuch: 100 Jahre Verband Deutscher Straßenwärter (1895-1995) „Jakob Leonhard - ein Lebensbild des Verbandsgründers“ Aus einem weiteren Aufsatz im gleichen Buch „Allgemeine Gewerkschaftsentwicklung“ wurden Passagen verwendet.
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Alte Handwerke und Gewerbe
Über alle Dörfer verstreut fanden sich in früheren Zeiten Handwerker und Gewerbetreibende, die für die bäuerliche Bevölkerung arbeiteten. Maschinelle Fertigungen gab es nicht, und was im Dorf selbst nicht hergestellt werden konnte, brachten „fliegende“ Händler oder Handwerker. Heute sind die meisten dieser Gewerbezweige verschwunden, die Industrie stellt all das, was früher in Handarbeit geschaffen wurde, wesentlich billiger und schneller her - wenn auch nicht in allen Fällen besser oder haltbarer.
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Die Leineweber dürften die größte Verbreitung aller Handwerker gefunden haben, es gab sie wohl in fast jeder Ansiedlung und meistens zu mehreren; denn der bescheidene Reichtum der Landbevölkerung ließ sich vor allem am Leinen in den Tücher- und Kleidertruhen ablesen. Eine Tochter mit guter Mitgift brachte immer eine wohlgefüllte Truhe mit in die Ehe. Das bäuerliche Leinen, aus Flachs gesponnen, gab es in verschiedenen Ausführungen: Hoodche (ganz grobe Sackleinwand), Zieche (Spreusäcke, auf denen anstelle von Matrazen die Bauersfamilie schlief), Bettücher (grobes Leinen), Bettleinen (mittleres Leinen), Gebildt (feines gemustertes Leinen, unter anderem für Tischtücher), Rippigte Tücher (geripptes feines Leinen, unter anderem für Handtücher). Die Bezeichnungen können von Dorf zu Dorf unterschiedlich gewesen sein, diese hier sind in meinem Heimatort noch geläufig.
Die Bauern mit Geschick für diese Kunstfertigkeit hatten in der Regel einen Webstuhl zu Hause stehen und betätigten ihn in Heimarbeit neben der Landwirtschaft. Durch den Anbau von Flachs versorgten sich die Menschen seit dem 16. Jahrhundert mit Tuchen für Wäsche aller Art, für Arbeitskleidung und für Säcke und Wagentücher. Schon Mitte des 15. Jahrhunderts ist der Familienname „Leineweber“, zugleich Berufsbezeichnung, im Hunsrück (Mengerschied) nachgewiesen. In der Stadt Kirchberg wurde 1596 eine Zunftordnung für das Leineweberhandwerk erlassen. 1768 sind im Kreis Simmern 350 Leineweber aktenkundig, 1864 48 Vollerwerbs-Leineweber und 1139 nebenberufliche. Und um 1900 klapperten 1457 Webstühle in Hunsrücker Stuben.
Als Napoleon die Rheinlande besetzt hielt, berichtete eine Statistik 1802 von 36000 Ellen produziertem Leinen. Die fleißigsten Bauern erhielten für ihre Arbeitsleistungen Auszeichnungen.
Nicht nur für den Hausgebrauch produzierten die Bauern Leinen, sondern sie verkauften es auch und besserten so die kärgliche Haushaltskasse auf. Das Hunsrücker Leinen zählte qualitativ zum besten im Rheinland.
Die Leineweber trafen sich regelmäßig zu ihren Jahrestagen. Da wurden sogar kirchliche Bettage versäumt, um an einem Treffen der Berufskollegen teilzunehmen.
Die Wichtigkeit des Flachses, des Leinen-Grundstoffes, für die Menschen ist anhand eines alten Versleins leicht nachzuempfinden:
Als ich klein war, war ich ein Pudelchen,
als ich größer ward, bekam ich ein blaues Hütchen auf,
als ich noch größer ward, wurd’ ich gerupft und gezupft und geschlagen
und zuletzt von Kaiser und König getragen.
Schon vor 4000 Jahren bauten die Ägypter Flachs an, es handelt sich wohl um die älteste Pflanze, deren Fasern die Menschen nutzten. Die Phönizier brachten den Römern die Kunde vom wertvollen Leinen und diese ließen auf ihren europäischen Beutezügen überall den Flachs Einzug halten. Flachs (Linum Usitatissimum) liefert neben dem Leinen noch Leinsamen zur Ölgewinnung, wobei die ausgepressten Samenkörner ein ausgezeichnetes Viehfutter abgeben.
Der Hunsrück bot ein hervorragendes Umfeld für den Flachsanbau: Schwere lehmige Böden und kühle, feuchte Sommermonate. Früh im April werden die Samenkörner ausgesät. Die etwa anderhalb Meter hohe Flachspflanze blüht blaßblau und beim Verwelken der Blüten beginnen sich die Samen zu bilden. Jetzt schon, bevor der Samen ausgereift ist, wird geerntet, weil der Leineweber in erster Linie Wert auf die Qualität der Stengelfasern legt.
Nach dem Trocknen der von Hand geernteten Pflanzen werden diese durch einen Stahlkamm gezogen, um die Samenkapseln abzustreifen. Nach dem Rösten sondert das Schwingen die brauchbaren Leinenfäden vom Pflanzenstengel ab. Das geschieht auf der Flachsbrech. Beim anschließenden Hecheln werden die Fasern entfernt, die sich zum Spinnen wegen ihrer geringen Länge nicht eigenen.
Das letztlich gewonnene Leinen ist noch ungebleicht und hat eine leicht gräuliche Farbe.
Dieter Diether
Quellen:
Dieter Diether: Ellern - Im Schatten der Erle, Argenthal 1995
Gustav Schellack: Flachsanbau auf dem Hunsrück. In: Hunsrücker Heimatblätter 57/1983, Seite 253 ff
James Seymour: Vergessene Künste, Bilder vom alten Handwerk, London 1984
Willi Wagner: Die Gewerbetreibenden in der Landbürgermeisterei Simmern im Jahre 1820.
In: Hunsrücker Heimatblätter Nr. 82/1991, Seite 56 ff
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Heimat im Hunsrück
Mit "Heimat" bezeichnen die Menschen im Allgemeinen den Ort oder die Region, wo sie geboren wurden oder wo, sie die längste Zeit ihres Lebens verbrachten.
Mit diesem Ort identifizieren sie sich, von ihm wurden sie maßgeblich geprägt. Sie sprechen in der Regel die dort verbreitete Mundart, nehmen Charakterzüge des dort lebenden Menschenschlages an und -dies vor allem- sind gemeinhin stolz darauf, gerade dort beheimatet zu sein.
Vor allem dann, wenn diese Region weithin von sich reden macht, wie beispielsweise der vielbesuchte Mittelrhein oder geschichtsträchtige Städte wie Mainz oder Trier, gilt es als besonders schick, zu sagen: "Ich komme aus..." Landschaftliche Schönheit oder historische Vergangenheit sorgen für einen gewissen Bekanntheitsgrad der jeweiligen Region. Dies alles schien oder scheint für die Hunsrücker nicht unbedingt zu gelten.
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Wer im Karree zwischen Rhein, Mosel, Saar und Nahe zu Hause ist und eine Urlaubsreise antritt, muß immer eine passende Erklärung auf die Frage: "Wo kommen Sie her" parat haben. Mir selbst ist es oft so gegangen und stets befriedigte die Antwort "vom Hunsrück" den Fragesteller wenig. Damit konnte er, schlicht gesagt, nichts anfangen.
Dem fragenden Blick begegnete ich gewöhnlich mit einer etwas weitschweifenderen Erklärung: "Zwischen Koblenz und Mainz, ziemlich genau in der Mitte, etwa zwanzig Kilometer Luftlinie Richtung Westen!" Was den Hunsrück bekanntmachte in den Jahren des Kalten Krieges, das waren die Raketenstationierungen in massivster Form - nicht unbedingt dazu angetan, eine Region als Erholungsgebiet darzustellen.
Vom "Flugzeugträger der NATO" sprachen die Friedensdemonstranten der Hunsrück ist also alles andere als ein Reiseparadies. In den späten fünfziger und während der gesamten sechziger Jahre schien sich so etwas wie eine Sommerfrische-Tradition anzubahnen, als meistens ältere Herrschaften aus dem Ruhrgebiet oder anderen Ballungszentren per Auto oder dem damals noch regelmäßig verkehrenden Bummelzug den Weg zu uns fanden.
In meinem Heimatdorf, damals vielleicht von 600 Menschen bewohnt, hatten einige Familien Zimmer vermietet für die Fremde oder Kurgäste. Wir Kinder begegneten ihnen zwischen Frühjahr und Herbst während ihrer Spaziergänge, kannten sie schließlich recht gut; denn sie kamen meistens im nächsten Jahr wieder... und im übernächsten... und... . Das beschauliche und überschaubare Dorfgeschehen bescherte den Sommerfrischlern so etwas wie Idylle.
Die suchten und schätzten sie, deshalb kamen sie immer wieder. Sie nahmen ihre Mahlzeiten mit den Vermieterfamilien ein, galten fast als Angehörige und halfen sogar in der Landwirtschaft mit. Nicht selten sah man sie auf hochbeladenen Heuwagen oder auf Traktoren sitzend durchs Dorf fahren. Der Hunsrücker ist genau wie seine Heimat mit rauher Schale versehen, hat jedoch einen weichen Kern. Wen er einmal ins Herz geschlossen hat, der bleibt auch dort drin.
Meine Familie betrieb zwar keine Ferienpension, aber durch regelmäßige Besuche einer Großcousine meiner Oma erlebte ich hautnah mit, wie die Gäste mein Dorf und die Menschen hier annahmen und von ihnen angenommen wurden. Tante Frieda kam aus Gelsenkirchen, ihre Enkelin, die sie stets mitbrachte, hatte mein Alter.
Das war für uns Kinder schon was besonderes, Gäste aus dem Ruhrgebiet zu haben, mit deren Anwesenheit "anzugeben" und denen etwas vom Leben auf dem Lande beizubringen. Wie konnte man sich nur so dumm anstellen und nicht mal eine Kuh, wenn sie abends von der Weide geholt wurde, richtig an der Kette zu packen? Oder in der Kartoffelernte nicht mal einen Traktor im Kriechgang an den aufzuladenden Säcken vorbei steuern zu können? Aber es machte Spaß mit den Besuchern und wir freuten uns schon bei der Abreise auf den nächsten Besuch.
Zum Abschied nahm Tante Frieda immer mindestens zwei große Bauernbrote aus unserer Bäckerei mit: "So gute Brote kann ich bei uns nicht kaufen", meinte sie stets. Und geschmeckt hat es den Gelsenkirchenern immer bei uns, denn sie "fraßen wie die Scheunendrescher" - wie der Hunsrücker zu sagen pflegt, wenn es jemand besonders gut schmeckt.
Dies ist gewiß nicht despektierlich gemeint, es drückt lediglich den Einfluß der guten Luft auf den Appetit der Städter aus. Nicht verwunderlich, daß die mir gleichaltrige Enkelin von Tante Frieda, an sich ein sehr schmales Geschöpf, nach zwei Wochen Aufenthalt im Hunsrück stets einige Pfunde mehr auf die Waage brachte.
Wie gesagt, viele Kurgäste kamen über lange Jahre in unser Dorf und wenn einer einmal fehlte, wurde gefragt: "Ist der... gestorben?" Anzunehmen, er hätte ein anderes Reiseziel als unseren Ort gewählt oder schlicht die Nase voll vom Dorf, kam uns gar nicht in den Sinn. Schließlich hatte er doch eine Ruhebank gestiftet, die am Waldrand zur Rast einlud.
Ein kleines Metallschild "Gespendet von..." prangte an der Rückenlehne. Solche Vermächtnisse an das Dorf gab es einige und die örtliche Sektion des Hunsrückvereins nahm sich dem Aufstellen der Bänke im Frühjahr und dem Einwintern im Spätherbst an.
Irgendwann war der ganze Spuk vorbei. Bevorzugten die Pensionsgäste mehr und mehr andere Reiseziele mit vielleicht mehr Zimmerkomfort oder benötigten die Vermieterfamilien die zuvor bereitgestellten Unterkünfte nun für den Eigenbedarf? Wahrscheinlich von allem etwas. Jedenfalls blieb letztlich nur die Dorfschänke übrig, die noch Fremdenverkehr betrieb - vielfach jedoch für Übernachtungsgäste die weniger in ihrer Freizeit als von Berufswegen im Dorf weilten.
Weite Teile des Hunsrücks schienen (und scheinen) es nicht zu verstehen, die Region professionell anzupreisen. Auch das Filmepos "Heimat" von Edgar Reitz, der unseren Landstrich bis nach Schweden, Japan und Amerika publik machte, hinterließ wenige Spuren im Fremdenverkehr. Anfangs reisten viele Menschen in den Hunsrück, um "Schabbach" zu begutachten und sich an die Spuren der Film-Simons zu heften. Sogar unzählige Laienspieler unserer Heimat wirkten in "Heimat" mit.
Übriggeblieben ist kaum etwas von der Euphorie, die den Hunsrück zunächst erfaßt hatte und die Orte mit Pensionsangeboten außerhalb der Hotels und Gaststätten sind leicht zu zählen. "Ferien auf dem Bauernhof" lassen sich natürlich auch immer schwieriger gestalten, denn die Zahl der Landwirte im Hunsrück geht stetig zurück. Auch damit geht ein Stück Ursprünglichkeit verloren. Aus Scheunen und Ställen sind Wohnungen und Garagen geworden.
Immerhin ist in den letzten Jahren vermehrt festzustellen, daß die Verbandsgemeinden sich deutlich um den Fremdenverkehr bemühen. Hochglanzprospekte und Zimmernachweise machen auf unsere Heimat aufmerksam. Heini Wahl besingt in seinen Weisen den Hunsrück. Erfreulich auch, daß sich die Menschen heute mit Stolz in der Fremde zeigen und Autoaufkleber mit dem Konterfei des Schinderhannes, eines berüchtigten Räuberhauptmannes aus alter Zeit, und dem Schriftzug "Eich sinn in Hunsricker" spazierenfahren.
Es ging einst die Mär vom Reisenden aus Mainz, der den ersten Ort Richtung Trier passierte und fragte: "Ist hier der Hunsrück?" Verneinend wies der solcherart befragte Einheimische gen Westen und meinte: "Der beginnt dort hinten!". Dem Reisenden wurde im nächsten Ort das gleiche Antwort-Schicksal zuteil und im übernächsten wieder und so fort. Irgendwann -er war Trier schon recht gut entgegengekommen- wechselte die Richtung des Fingerzeigs der Dörfler: Der ausgestreckte Arm wies nun nach Osten, die Antwort lautete: "Nein, hier nicht mehr, sie kommen doch gerade vom Hunsrück!"
Es klingt zwar wie ein Schwank, beinhaltet aber eine gehörige Portion Wahrheit. Der Hunsrücker schämte sich seiner Herkunft. Vielleicht, weil seine Heimat karg, kalt und ärmlich war, vielleicht weil er so wenig Sehenswertes birgt. Heute sind die Hunsrücker tatsächlich stolz auf ihren Landstrich - sie schämen sich weder ihrer Herkunft, noch ihrer Sprache. Und der Feriengast, der sich einmal hierher "verirrte", kommt mit Sicherheit mindestens noch einmal wieder. Denn die früher oft naserümpfend als "hinterwäldlerisch" abgetane Abgeschiedenheit gilt in der Hektik und dem Streß unserer Tage als Kleinod der Beschaulichkeit.
Dieter Dieter
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